Veit Stiller

2012 – ANSBACH [AUSZUG] (KATALOG)

… Gewaltig erhebt sich die wuchtige Kirche über die Dächer. Am Schiff entlang weitet sich die Straße etwas hin zu den Bürgerhäusern, wie ein Zugeständnis, und macht die Dimension deutlich. Um den Hohen Chor herum jedoch wirkt die Enge der Gasse neben dem riesigen Bauwerk geradezu erdrückend. Hier ist der Eingang zum Beringershof.

Ein einstiges Stiftsgebäude mit Treppenturm, Läuben, offenen hölzernen Umgängen in der Etage und klosterähnlichem Innenhof. Lauschig. Brunnen und Rabatten mit gut gemischter Pflanzung bestimmen sein Flair. Gerade der rechte Ort für Szymanskis zwei „Figuren in großer Höhe“.

Lebensgroß thronen sie in anmutig graziler Eleganz auf niedrigen Sockeln. Teile von Industrie-Abfall zu ihren Füßen erheben sie „in große Höhe“, machen sie engelsgleich.

Ein Ort zum Verweilen.

In einer der Läuben bieten Klappstühle und -tische einer zu dieser Tageszeit noch geschlossenen Restauration Gelegenheit zu unbekümmerter Betrachtung.

Wie anders als in dem nach Morgensonne baumschattigen Winkel im Park, wo sie sonst stehen, wirken die beiden Grazien hier…

Das üppig ausladende Grünzeug der Rabatten mit Blüten in sommerlicher Farbigkeit liegt wie ein Teppich zu ihren Füßen, unterstützt und bestärkt das Erhöhende. Die seriellen Formteile sind feindlich Fremdes, dem natürlich einmalige Sinnlichkeit entwachsen will; aus dem sie sich wie von selbst „in große Höhe“ heraus hebt.

Etwas Italienisches hat dieser Hof.

Die beiden armlosen Damen erscheinen darin als bronzene Schwestern der marmornen Venus von Milo. In szymanskischem Duktus, versteht sich.

Seine Frauenfiguren sind alles andere als filigran. Handfest bodenständig und erdverbunden sind sie, wie körperliche Liebe. Dabei voller Würde. Ihre Aura lässt sie zerbrechlich erscheinen. „Ich mache nur Frauenfiguren“, hat er einmal gesagt; und auf die Frage wie er dazu kam, hatte er mit dem ihm eigenen vieldeutigen Grienen geantwortet: „Wie man als junger Mann zur Frauenfigur kommt…“

Nun, da ist er in zahlreicher guter Gesellschaft.

Ein Mann, der die Frauen liebt…

Nach den Formteilen und Fundstücken befragt, die sich häufig in seinen Werken finden, schwieg er und schien in sich hinein zu lächeln.

Sein Gießer, bei dem er, seit der Emeritierung auch die Werkstatt hat, meinte: „Vor dem ist nichts sicher. Wenn er plötzlich etwas sieht, was ihm passt, ist es sofort weg, egal was und woher. Das findet sich dann in seiner Skulptur wieder. Wir mussten auch schon Dinge, die wir brauchten, zurück holen…“

Szymanskis erfrischende Unbedingtheit.

Der Himmel beginnt, sich aufzuhellen.

In St. Gumbertus lagert Gotik.

Dem Portal gegenüber hockt auf künstlicher Beule im Pflaster ein Jüngling; zwischen seinen gekreuzten Beinen wächst ein Baum, als ob der Träumer schon Jahrzehnte so sitzt.

Ansbacher Ironie?

Ein paar Schritte weiter dümpelt das Haus in dem Kaspar Hauser lebte.

An diesem und dem Kaspar-Hauser-Museum vorbei führen Gassen zum Markgrafen-Museum.

Das betreut auch ein Stück erhaltene Stadtmauer mit Wehrgang und einem Stadttor. Neben diesem erinnert eine Skulptur an den in Ansbach geborenen Ernst von Bandel. Von den Kindheitsmustern in napoleonischer Fremdherrschaft geprägt und von der Restauration nach dem Wiener Kongress enttäuscht, entwarf er ein Denkmal. Für den Cherusker Herrmann. Als Halt für die Hoffnung: Symbol der Einheit Deutschlands. Nahe Detmold wollte er es errichten: im Teutoburger Wald. – Und wurde verlacht.

Er ruinierte sich für seinen Traum. Bis „unser Kaiser Wilhelm“ neue Symbole brauchte.

Der hilflose, mönchig wirkende Bronze-Mann wird als Zutat übersehen, wie weiland Bandel selbst, und auch die Sonne, die gerade hervor kommt, lässt ihn jetzt im Schatten: es ist Oktober.

Im Eingangsbereich des Museums steht unter Ahorn-Bäumen und zur Johanniskirche hin Szymanskis Figur „Eng sind die Schiffe III“.

Welkes Laub rieselt über die eiserne Lady auf ihrem Nachen, der derart mit Kästen und Ballen und Industrieformen gefüllt ist, dass sie kaum Platz zum stehen findet. Ein weiblicher Gondoliere stakt Lasten durch ein imaginäres Venedig.

Blickfang des Museums-Hofes ist die Fortsetzung des Stückchens Stadtmauer mit Wehrgang. Wie von selbst geht der Blick zuerst nach links, wird aber unweigerlich nach rechts gezogen, wo ein opulenter Vorhang von dunkelgrün und rot leuchtenden Ranken Wilden Weins das Ende der Stadtbefestigung verschleiert und eine Ecke füllt.

Auf der großen etwas hügeligen Wiese davor und so platziert, dass der Blick sie zunächst nicht erfasst, steht im Schatten der Johannis-Kirche Szymanskis bronzener „Tag des Überflusses“ aus der Serie „Die Frauen von Messina“.

Im Sommer ist der Kirchenschatten kürzer, die Skulptur an dem Platze aber nicht schneller und besser zu bemerken. Nur wer sie sucht, findet sie. Wieso?

Und wo sind die zwei anderen? Gerade hier wäre doch Raum für dieses Terzett unbändiger Lust auf restlose Liebe und Innigkeit – und ein Ort für Kontemplation…

Könnte die hehre Vergangenheit von soviel prallem Leben Schaden nehmen?

Auf behauenem Sandstein-Quader sitzt eine Frau, sichtlich schwanger, auf deren Schoß und Schulter ein Kind tollt. Oder sich kuschelt, oder Geborgenheit sucht, oder aus ihr fliehen will. Ein Kind eben. Beide scheinen Fragment, wie die Momentaufnahme einer unvollendeten, noch im Werden begriffenen Schöpfung; der Stein unter der Frau dagegen ist definierte Hinterlassenschaft von Architektur.

Wie sie hier auch ringsum steht.

Die sonnige Ruhe im Hof verleitet zu Betrachtung und dazu, Fehlendes vergessend, Szymanski „zu lesen“. Vielleicht den Assoziationen etwas Lauf zu lassen.

Im Gespräch erzählte Szymanski einmal: „Als ich zu meiner Mutter sagte, ab morgen werde ich Bildhauer, meinte sie: verzettel’ dich nicht. Ich habe ihr nicht geglaubt.“

Später, als er in der Arbeit an einer Tonfigur kurz Pause machte, sah er über die Schulter und sagte: Ich habe meiner Mutter nicht geglaubt. Das darf man auch nicht tun. Nie!“

Das klang so, als sei ihm gerade die erste Aussage in den Sinn gekommen.

Oder war sie immer da und die Arbeit an der Frauenfigur hatte sie gerade wieder einmal freigelegt? Von seinem Zuhörer erwartete er, dass der seinen Gedanken zügig folgte…

Während dieser Reminiszenz ging der Blick, zuerst unwillkürlich dann bewusst, immer im Dreieck: Stadtmauer mit hölzernem Wehrgang, wuchernder Wilder Wein in Grün und Rot, die Schwangere mit dem Kind.

Kinder wollen immer weg von der Mutter. Außer manchmal. Wann das ist, entscheidet das Kind, nur darf es das nicht bestimmen. Das tut die Mutter…

Beschreibt dieser „Tag des Überflusses“ nicht nur die Mutter mit einem tobenden und einem werdenden Kind, sondern ebenso, womöglich vor allem, das Kind, das dem Überfluss an Fürsorge und der gedeihenden Konkurrenz entfliehen will?

Überfluss erdrückt Freisein…

Szymanski hat eine Schwester und eine Tochter – Männer sind ja eigentlich nur Kinder, die sich rasieren müssen.

Die andere Seite von St. Johannis, Martin-Luther-Platz: Blauer Himmel, Sonne.

Zwei Türme schließen das Kirchen-Schiff ab, dann beginnt der Hohe Chor. An dessen gotischen Stützpfeilern Heilige und Märtyrer. Daneben auf der Wand hoch oben eine Sonnenuhr, darunter ein Kriegerdenkmal für den Ersten Weltkrieg, und noch einmal darunter ein Mahnstein für die Opfer des Zweiten.

Formal erstarrte Gedenk-Kontinuität, dem jeweiligen Zeitgeist folgend und befremdlich gefühlsfrei. Vor diesem Ensemble steht Szymanskis „Gebreite“.

Von vorn gesehen ist das ein Klageweib; von der Seite sieht man, dass es zwei Figuren sind: Eine gebeugte Frau mit Kind auf dem Arm und ein mit gebreiteten Armen Stürzender: Jesus fällt vom Kreuz? Die Frau: Hüterin des Lebens und Beweinende zugleich. Madonna mit Kind und Pieta.

Was ist nur an Szymanskis Figuren, dass sie so auf den Betrachter, falls der sich auf sie einlässt, einwirken können, Gefühle, Erinnerungen, Erfahrungen, Vergleiche aus ihm herauslocken?

Die schrundig schuppige Oberfläche und der kantige Habitus szymanskischer Figuren bringen in die eingefangene Momentaufnahme den ganzen Kreis des schmerzhaften Werdens und Vergehens ein. Kein heroischer Schwulst, aber voll von Hoffnung.

Um das auf diese Weise wahrhaftig vorzustellen zu können, muss man wohl viel Schmerz erfahren haben; Schmerz, der sich anders nicht mitteilen ließ…

Mutter und Sohn…

Ewige Mutter, die selbst ihren sterbend stürzenden Sohn aufrichten will? Oder auffangen und sanft ablegen, wie damit er sich nicht weh tut…

Mütter sind so.

Eine etwas andere Pieta?

Viele gehen vorüber, keiner verweilt. Man eilt, dirigiert Kinderwagen Richtung Sonne, besänftigt quängelnden Nachwuchs, hastet zum nächsten Laden: ist in Alltäglichkeit verstrickt.

Niemand hat hier und in der Sonne Zeit zum Besinnen oder Erinnern.

Erinnern… Ist das nicht ein zutage fördern von verschütteten Artefakten?

Erinnert wird, was prägend war und etwas auslöste: Fakten, Dinge, Ereignisse, Begegnungen. Das Darum, die Zusammenhänge, verblassen und verschieben sich, verwittern gleichsam. Bis später Chronisten oder Spurensucher sie ausgraben.

Nach prägenden, den Weg seines Lebens bestimmende Momente befragt, hatte Szymanski diese präzise geschildert, hatte Begegnungen mit Freunden, Sammlern, Künstlerkollegen benannt: ein Film mit Heinrich George als Andreas Schlüter, HAP Grieshaber, Ehepaar Fürst, Hans Uhlmann, eine kleine afrikanische Skulptur namens „Colloma sans fin“, Rodin und Giacometti, Dieter Brusberg…

Zusammenhänge und Chronologie jedoch waren durcheinander geraten – weil sie nicht wirklich wichtig waren und schon „verwitterten“.

Sind so auch seine Figuren zu lesen? Habitus und Ausdruck, alles kann so oder anders sein.

Andere Gassen, nüchtern sachlich, als hätten hier früher Handwerker gelebt und gewirkt. An der Synagoge vorbei; die ist geschlossen, wird aber mit Videokameras bewacht. …

Berlin, März 2012.

Für: „Ansbach, eine Erzählung / Szymanski in Ansbach“, Edition Brusberg, Oktober 2012