Veit Stiller

1995 – AUCH WÄRTER HABEN SCHICKSALE (DIE WELT)

„Mit Trauer stelle ich fest, dass das vermögen, zwischen verschiedenen Qualitäten einer Sache zu unterscheiden, immer mehr abnimmt. Man unterscheidet Terpentin und Wasser, zwischen zwei Weinsorten zu unterscheiden haben die meisten schon verlernt.“ Der Mann der das sagt, wirkt klein und zerbrechlich. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Kampf ums Dasein ist das leben des Bildhauers, Zeichners und Schriftstellers Wieland Förster gewesen; und dieser Kampf hat Spuren hinterlassen, hat Försters Gesundheit ruiniert. Sein Gesicht aber ist offen, hat etwas Lausbubenhaftes. Zum 65. Geburtstag im Februar wurde er mit einer Ausstellung geehrt. Die Berliner Nationalgalerie hat eine seiner Arbeiten im Skulpturengarten aufgestellt. Und am 7. November wird in der Dresdner Gedenkstätte für die Opfer politischer Gewaltherrschaft seine Plastik „Namenlos – ohne Gesicht, den zu unrecht verfolgten nach 1945“ enthüllt.

 

Eine enorme Kraft strahlt er aus. Er spricht ruhig und konzentriert, etwas abwiegelnd, druckreif. „Meine Kunst geht immer von den erfahrenen Grundverletzungen aus.“ Die erste musste der gebürtige Dresdner sehr früh erleben – noch bevor er zur Schule ging, starb der Vater. Als er zehn war gefiel er sich mit langen Haaren, wurde schikaniert und von den Nazis zwangsweise geschoren. „Ich habe das Glück gehabt, von Kindheit an auf das geringste Unrecht mit Jähzorn und psychischer Verletzung zu reagieren. Das hat mich davor bewahrt, diktaturhörig zu werden.“ 1944 kam er in ein Straflager. Sein Charakter ließ ihn auch später mit den Mächtigen kollidieren. „Freiheit ist für mich: leben in eigenen, selbst festgelegten Zwängen.“

 

Er begann 1944 eine Lehre als Technischer Zeichner. Als 15jähriger erlebte er, wie Dresden unterging. Nach dem Krieg hätte alles gut werden können. Förster gehörte zu den Gründern einer freien Antifa-Gruppe in der Elbestadt. Aber weil er Zeuge von Schiebereien eines SED-Funktionärs wurde, brachte der ihn unter falscher Beschuldigung vor Gericht. Die Sowjetische Militäradministration verurteilte ihn zu siebeneinhalb Jahren Zwangsarbeit; dreieinhalb davon hat er in Bautzen abgesessen. „Ich will niemand nachträglich verletzen, aber ich meide jeden Kontakt zu sich bildenden Gruppen. Was war ist meine allerpersönlichste Biographie. Mein Credo ist: niemals Gewalt.“

Als er 1950 entlassen wurde, gaben die Ärzte ihm noch fünf Jahre zu leben. Der Gedanke, in den Westen zu gehen, lag auf der Hand. Aber familiäre Bindungen, vor allem zu seiner Mutter, hielten ihn in seiner Heimatstadt. „Ich hatte niemals Rachegefühle, nur Trauer und Vergebung. Hass allerdings gegen Intoleranz.“ Der christlich erzogene Förster hält das für ganz normalen Anstand, eine humanistische Motivation. „Auch die Wärter haben Schicksale.“ Mehr als 40 Jahre nach der Haftzeit hat er ein Theaterstück über menschliche Geschicke und das verhalten von Häftlingen geschrieben. Walter Jens nennt das Stück, dessen Hintergrund Försters Gefängniserfahrungen bilden, eine Parabel: „Die Ungleichen – in der Nacht die Verhöre“. Darin sind die sowjetischen Wächter ebenso wie die deutschen Häftlinge als Opfer ihrer Zeit dargestellt, als Produkte unmenschlicher Systeme.

 

Technischer Zeichner zu bleiben schien ihm ohne Perspektive: von 1953 an studierte Förster fünf Jahre lang Bildhauerei an der Dresdner Kunsthochschule. Es war ein erster Versuch, seinen Grundverletzungen Gestalt zu verleihen. Und damals, im Dresden der frühen 50er, kündigten sich bereits neue an.

Als Förster die Kunsthochschule besuchte, war die Kulturlandschaft der DDR von der „Formalismus-Diskussion“ gekennzeichnet, einer Debatte, die allen Künstlern Stalins Verständnis von Realität aufzwingen sollte. Das im „Elbflorenz“ zu erleben, der Stadt, wo die Künste gleichsam in der Luft liegen, glich absurdem Theater. An der Dresdner Kunsthochschule, dem Ziel der Wünsche, musste  das „Arbeiterkind mit Durst nach Welt“ feststellen, dass ihm wichtige teile der Bibliothek verschlossen blieben. Ein Schock. „Alle, die für meine künstlerische Entwicklung wichtig waren, durfte ich weder sehen noch lesen.. Damals waren das van Gogh, Beckmann, Marini, die gesamte Klassische Moderne. Und dann gab es immer  wunderbare Künstler im Lande, wie Altenbourg, die verboten waren.“ Die bechneidung der elementaren Menschenrechte empfand er als körperliche Verletzung, verhielt sich wie bei anderen vorher: Kontakte abbrechen, einigeln, arbeiten. Seit dem hat er an nichts als an sein Werk gedacht.

 

Nach dem Studium und dem Weggang von Gustav seitz nach Hamburg wurde Förster Meisterschüler bei Fritz Cremer an der (Ost-)Akademie der Künste, übersiedelte nach Berlin. Die nächste Verletzung ließ nicht auf sich warten. Die Akademie-Ateliers befanden sich unmittelbar an der Sektorengrenze; vor dem Fenster schnitt über Nacht eine Mauer die Welt ab. Wenig später, er hatte gerade Walter Felsenstein porträtiert, wollten die damaligen SED-„Kulturpolitiker“ ihn zum Staatsbildhauer aufbauen, aber er lehnte ab. „Ich bin eingeschlossen, wie ein Insekt im Bernstein, in meine Einsichten und meine Biographie. Ich konnte gar nicht anders als für mich arbeiten. Bis 1973 oder 1974 war das eine Folge von Notzuständen.“

Die Wohlverhaltensschwelle hat man in der DDR nie genau definiert. Sie konnte sich blitzschnell verschieben. Förster wurde 1967 davon ereilt: Einige seiner Arbeiten waren auf Ablehnung gestoßen, er erhielt Ausstellungs- und Publikationsverbot. Ein tunesischer Veranstalter erzwang noch Försters Reise zu einer Ausstellung, dann wurde es still um den Künstler. Aber er ging auch jetzt nicht in den Westen. „Ein figurativer Mann war da nicht gefragt. – Leid! Wer wollte das sehen? Also habe ich das alles ertragen. Ich konnte meine Arbeit machen, solange ich vom Staat keine Unterstützung verlangte.“ Geringe Lebenskosten und Ateliermieten erlaubten das Arbeiten auch in Verbotszeiten; das Abgeschottetsein ermöglichte es ihm, ohne jede Rücksicht zu verwirklichen, was ihm vorschwebte.

In dieser Zeit kam Förster zu den Eckpunkten seines Werkes: „Ich habe einiges entwickelt, was es vor mir so nicht gab: die Porträtstelen, die `Einblicke´ in den menschlichen Körper und die `Flugbilder´“. In den Jahren des Totgeschwiegen-Werdens unternahm er einige reisen, die ihn nachhaltig beeinflussten. Die erste nach Tunesien: „Das war wie eine Reise zu meinen Vätern.“ Klee und Macke waren dort gewesen, und wie diese beeindruckte auch Förster das mediterrane Leben. In Tunesien sah er zum ersten male Oliven. „Diese Jahrtausende alten Ölbäume standen schon zu Christi Zeiten. Das war für mich eine schickalhafte Begegnung, eine Erfahrung der Unvergänglichkeit. Später bereiste Förster intensiv die Insel Rügen. Er fuhr auch ins böhmische Kuks, setzte sich mit dem Werk des Barock-Bildhauers Matthias Braun auseinander. Alle Reisen sind in Tagebüchern dokumentiert. Die über Tunesien und Rügen durften zunächst nicht veröffentlicht werden. Erst 1974 konnte Konrad Wolf – der Filmregisseur war Präsident der DDR-Kunstakademie – nach zähem Ringen Försters Rehabilitierung durchsetzen.

Der Einsatz von Wolf befreite Förster aus der inneren Emigration, er wurde in die (Ost-)Akademie der Künste aufgenommen. Als Dogmatiker die Wahl des parteilosen Förster zum fünften Vizepräsident verhindern wollten, stellt Wolf sein Amt zur Verfügung, erzwang so die Wahl. Einige Zeit später geriet Wolf wegen seines Filmes „Solo Sunny“ in die Schusslinie. „Er kam zu mir, wir lebten verborgen auf dem Land.“ Wieder ließen neue Grundverletzungen nicht auf sich warten.

„Aus Gründen, über die sich nur mutmaßen lässt, ich lese aus Ekel keine denunziatorischen Akten, wurden nach Wolfs Tod die seelischen Belastungen und die vielfältigen Formen der Überwachung so stark, dass mein Körper diesem Druck nicht mehr standhielt.“

Er hat die DDR überlebt, arbeitet zur Zeit an einem fiktiven Briefroman ohne biografischen Hintergrund. Es soll ein Aufruf zur Toleranz gegenüber allen sein, die uns fremd sind. „Das ist auf traurige Weise so aktuell wie damals als ich begann. Die Welt ist in manchem gefährlicher geworden. Freiheit ist die Bindung an die physische und psychische Unantastbarkeit des anderen.“ Von gesetztem Jubilar keine Spur, er arbeitet, als müsse er ein halbes leben nachholen. Im Zeichnen hat er die Farbe wiederentdeckt, nachdem sein zeichnerisches und graphisches Werk bisher vorwiegend von schwarzen Tönen bestimmt war.

„Immerhin bin ich völlig von meinem Werk besetzt – so brachte die Auflösung der DDR für mich keinen Identitätsverlust mit sich: Mein Werk war nicht davon betroffen.“ Das ist nicht ganz richtig. Denn Förster hat seinem Werk neue Facetten hinzugefügt. „In ihm ist Spirituelles im Naturwüchsigen aufgehoben, ich suche Erweiterungen zur menschlichen Gestalt. Der Mensch scheint an Wert verloren zu haben, aber er darf nicht angetastet werden.“

 

Berlin, Juli 1995

Für: DIE WELT, November 1995