Beobachtungen im legendären Pückler-Park Bad Muskau, beiderseits der Grenze
Die Autos haben Kennzeichen aus Leipzig, Nürnberg, Köln und der Umgebung von Bad Muskau – die darin sitzen kommen nicht hierher, um die Stadt oder den Pückler-Park zu besuchen, alle wollen zur Grenze. Auf der engen, mit Katzenköpfen gepflasterten Straße schlängelt sich der Rückstau durch die Altstadt. Eigentlich ist der Grenzübergang Bad Muskau nur von regionaler Bedeutung, aber seine Existenz hat sich herumgesprochen, auf beiden Seiten, und folglich ist er an vielen Tagen ebenso überlastet wie der kleine alte Ort; sogar Kaffeefahrten werden hierher gekarrt, um drüben billig einzukaufen. Am Wochenende gibt es hier Wartezeiten für Fußgänger – bis zu drei Stunden, das ist einmalig in Deutschland. Personaldokumente, Gesichtskontrolle, Fahrzeugpapiere, grüne Versicherungskarte – stummes Weiterwinken.
Früher grenzte hier die DDR an die Volksrepublik Polen, jetzt die Europäische Union an den Rest des Kontinentes. Die Kleinstadt ist vom Ansturm all des Neuen überfordert und döst im Odem längst vergangener Zeiten: Stumm weiter gewinkt. Eine Grenzer-Schicht lang das gleiche Prozedere, einmal in der Minute. Routine und Pflicht: keine Regung heißt weiterfahren, alles andere bedeutet Stichprobe. Im Weiterwinken liegt schon die Regungslosigkeit, die dem nächsten gilt. Eine kleine, schmale Brücke über den Fluss, bergauf-bergab, am gegenüberliegenden Ufer ein Schilderhaus: da beginnt die andere Welt. Beiderseits der Straße Verkaufsstände für allen möglichen Trödel, auf der Straße tummeln sich Fußgänger, Autos stören. Dann nur noch Anwesen, mehr Straßendorf als Kleinstadt, eine Billig-Tankstelle, Wald.
Der Ort heißt Leknica. Neubauten leuchten heraus, sie sind unverkennbar polnisch. Erst nach Gewöhnung fallen die alten Gebäude ins Auge: deutsche Bauernhöfe, im Putz oft noch die Einschüsse vom letzten Krieg. Befestigt, aber staubig die Straße, dann endlich Wald, die Wildnis.
Das ist also der Pückler-Park, der legendäre, der vielen anderen Anlagen als Vorbild diente. Der Weg gabelt sich. Welcher Pfad ist der richtige? Das weiß man nie in Pücklers Parks. Man geht augenscheinlich auf ein Ziel zu und plötzlich teilt sich der Weg, beide Richtungen winden sich offensichtlich vom Ziel fort. Aber einer führt hin, der andere nicht. Welcher?
Ein Hang, jüngst wieder in alter Form hergestellt, oben bekrönt von der Imitation eines Hünengrabes. Ein Findling mit zwei Bronzeplaketten. Von Sonnenlicht überflutet eine nachempfundene Medaille mit dem Porträt Pücklers, von Eichenlaub und Lorbeer wie von einem Ordensband bekränzt und darunter die Lebensdaten: 1785 – 1871. Auf der Rückseite die zweite Tafel – im Dunkel des Gegenlichts wirkt sie fast unscheinbar. Der zweisprachig ausgeführte Text verkündet, daß der „Pücklerstein durch gemeinsame Bemühungen polnischer und deutscher Denkmalpfleger 1991 wieder aufgestellt“ wurde.
Von hier aus blickt man nach Deutschland hinüber. Ohne Zweck und Nutzen, nur zum Zeitvertreib. Nach Deutschland hinüber… Früher war hier auch Deutschland, der größere Teil des Parks lag diesseits. Die Neiße, heute Grenze, war in Pücklers Anlage nur Mittel zur Gestaltung. Bald verschwand sie völlig aus dem Blickfeld, bald wurde der Flaneur buchstäblich auf den Fluss hin gelenkt, Brücken führten hinüber. Reste der Pfeiler stehen noch, mit Grenzpfählen bestückt, und verwirbeln das fließende Wasser. Pückler nahm die Landschaft als gegeben, machte seine Philosophie daraus und veränderte die Topographie, wo sie nicht in die Idee passte. Aber was er künstlich anlegte, sollte wie natürlich gewachsen erscheinen. Blickt man nach Deutschland hinüber, erscheint alles wohlgeordnet, wie aus einem Guss. Die Blick-Fluchten, die an verschiedenen Punkten des Parks, genau wie hier am Pückler-Stein sternförmig aufeinander zu laufen, scheinen nichts als eine Laune der Natur zu sein. Die Wildnis hier wirkt auch wie aus einem Guss.
Drei Viertel des Parks, der den ganzen Ort samt Mineralquellen und die etwas abseitigen Alaun-Hütte und Gruben einschloss und allmählich in die Landschaft übergehen, gleichermaßen der Muße wie wirtschaftlicher Nutzung dienen sollte, sind jetzt verwildert. Wie Inseln waren Weiden, Meiereien, Gehöfte integriert, selbst offensichtliche Parkwiesen dienten der Tierhaltung, die Gewässer der Fischzucht. Eine mittelalterliche Wehrkirche, die im Jahr von Pücklers Taufe aufgegeben wurde, ließ der Landschaftsgestalter erhalten und in die Anlage des Bergparks einbinden – der liegt drüben in Deutschland. Im Kriege zerstörte, wurde die Ruine in den 60er Jahren unter Denkmalschutz gestellt, nach der sogenannten Wende fiel sie dem Vandalismus anheim. „Der Park sollte den Charakter der freien Landschaft haben, die Hand des Menschen nur wenig darin sichtbar sein“, benannte Pückler seine Vision. Deren Kern war der „Freie Blick“, er gab ihm Weite und Begrenztheit direkt nebeneinander.
Drüben in Deutschland sah man zu DDR-Zeiten auf den Wiesen noch Schafe grasen, das ist inzwischen unrentabel, alles ist nur noch Anlage – in Polen hat Wildwuchs den Plan beinahe unkenntlich gemacht. Hier werden Parks nur in Verbindung mit Schlössern gepflegt – das Pückler-Schloss steht aber auf der anderen Seite der Neiße, drüben in Deutschland. Jahrelang hat man hier nichts getan, jeder glaubte, die Fritzen holten sich das alles zurück. Bleibt nur der Blick nach Deutschland – hinüber.
Muße stellt sich ein. Der Planer dieses Parks hatte sie nie. Pückler entwarf, wovon er glaubte, dass es die Seele erheitere und das Gemüt erleichtert. Er selbst war ein Getriebener, von innerer Unrast vor allem – und meist auch vom Mangel an Geld, die großen Pläne zu verwirklichen. Aus Sparsamkeit entschied er, nur einheimische Gehölze zu verwenden – später wurde eine Kultur daraus. Der Park sollte, trotz aller Künstlichkeit, wie natürlich wirken – ein genialer Einfall und damals seiner Zeit weit voraus.
Jetzt, wo frisches Grün aus den Zweigen treibt, wirkt diese Seite chaotisch, aber lebendig. Die andere, da drüben erscheint als Imitat. Ein deutscher Traum: das Leben in feste Bahnen lenken – geträumt von einem der nicht leben kann, aber danach lechzt. Von hier erkennt man es. Deutschland liegt selten so nah in der Ferne.
Weiter, in die Wildnis hinein, die Terra incognita. Neugier erwacht, Entdeckerfreude regt sich. Nicht Pücklers Exaltiertheit – es muss ja nicht der Vierspänner mit Hirschen sein, mit dem er am Schloss Charlottenburg vorfuhr… Aber sind Pücklers Park-Visionen und ihre bedingungslose Realisierung nicht die Kehrseite der Exaltationen? Landschaft gestalten hieß damals allenfalls urbanisieren, der neuen Kraft Technik folgend. Als Gegenpart, „für die Seele“, legte man unterkühlte englische Parks an. Pückler nicht. Er holte sich in Britannien nur Anregungen. Die Reiseberichte, von der Ehefrau als „Briefe eines Verstorbenen“ herausgegeben, wurden in Windeseile zum Bestseller und waren wochenlang Thema der Berliner Salons. Es war Pückler gelungen, in der Beschreibung der englischen Verhältnisse die deutschen zu karikieren. Noch vor den Parks hat der umtriebige Standesherr sich damit unsterblich gemacht: als „erster Reisejournalist nach Herodot“. Auch von der Faszination für die Industrie war er nicht frei: Alaunwerk und Eisenhütte in der Nähe bezog er in die Planung des Parks ein – beide gibt es heute nicht mehr.
Auf knatterndem Moped fährt ein polnischer Grenzer das Flussufer entlang – in Osteuropa werden die Westgrenzen bewacht, sogar in Parks. Pückler war ein ungeliebtes Kind, die Mutter sah in ihm nur eine lebende Puppe, Lehrer bestellte sie nach erotischer Eignung: aus dem sensiblen Kind musste ein Neurotiker werden. Sensibel und intelligent, mit hohem Abstraktionsvermögen begabt, stand er immer im Zwang, sich beweisen zu müssen; sich hervorzutun um anerkannt zu werden: Seine Reiterkunststücke waren Gesprächsthema an den Höfen von Dresden und Berlin. Heinrich Heine, der Freund im Geist, nannte ihn „fashionabelsten aller Sonderlinge, Diogenes zu Pferde“ – und widmete ihm die „Lutetia“. Pückler hat das für die Anlage nötige Terrain den Bauern zum Tagespreis abgekauft, obgleich er es als Standesherr hätte requirieren können. Drüben in Deutschland ist Land jetzt Spekulationsobjekt.
Wanderung durch die Wildnis. Eine Gruppe kapitaler Buchen: vor denen zog vermutlich schon Pückler ehrfurchtsvoll den Hut. Es finden sich noch viele Reste seiner Anlagen auf der polnischen Seite des Parks. Aber man muss genau hinsehen, sie auszumachen. Auch Bauwerke sind erhalten – nur das Mausoleum fiel Krieg und Nachkrieg zum Opfer. Der Fürst verschwendete das Leben und hatte den Tod immer vor Augen: Die Hauptflucht des Parks öffnete den Blick vom Schloss zu seinem Gegenstück, dem Mausoleum. So viel Deutschsinn kann kein Pole begreifen – aber vielleicht hat vorher auch zurückweichende SS alles zerstört.
Steine und Reste von Gesimsen zeigen, wo das Mausoleum war. Der Blick nach Deutschland hinüber ist zugewachsen. Ein verfallendes Viadukt, die Klamm darunter hieß „Sahras Walk“; eine tudorische Schluchtbrücke zwischen Bergen, die nur angelegt scheinen, damit ein steinernes Monstrum sie verbinden kann. Dahinter beginnt gleich das Dorf. Das erste Gehöft, aus rotem Backstein gebaut, scheint seit Pücklers Zeiten unverändert, nur Grünpflanzen in den Fenstern deuten auf Bewohner.
Der Ort scheint heute nur notwendige Zutat für den Markt zu sein, und der mutet an wie das Plagiat eines arabischen Basars. Der Blick nach Deutschland hinüber ist nicht möglich, und auch nicht nötig: Deutschland kommt herüber und kauft. Jeans-Imitationen, Raubkopien von CDs, Zuckerzeug und in Lizenz produzierte Zigaretten. Hauptsache billig.
Zurück, nach Deutschland hinüber. Auf der Brücke ist Stau. Heine und Pückler haben sich nur einmal für wenige Stunden gesehen, dafür waren sie extra nach Wien gefahren. Der Grenzpolizist winkt stumm. Die Straßen der Altstadt, oder was Krieg und Real-Sozialismus davon übrig ließen, sind voller Deutscher, die ihre Friedensbeute aus dem Polnischen nach Hause buckeln. Pückler brachte von einem Sklavenmarkt im Orient das vierzehnjähriges Mädchen Machbuba mit nach Hause und erwartete, dass seine Frau Lucie sich darüber freue. Sie hat die Kleine aufgenommen, aber die starb bald an Schwindsucht. Die viel ältere Lucie, geborene von Hardenberg, war nur kurze Zeit mit Pückler verheiratet. Sie drängte ihn zur Scheidung, um mit neuer Heirat und Mitgift den Park zu retten. Das misslang. Muskau wurde an die von Arnims verkauft – in Branitz bei Cottbus begannen beide erneut, einen Park anzulegen. Trotz Scheidung blieben Pücklers bis zum Tode zusammen. Wie Schwäne. Oder wie zwei Riesen, die sich Rücken an Rücken gegen das Gewimmel der Zwerge wehren. Parkinspektor Jacob Heinrich Rehder hat Pücklers Werk von Anfang an ausgeführt und nach dem Verkauf vollendet.
Das Herrmannsbad, ein klassizistischer Bau über der stärksten Eisenvitriol-Quelle Europas, hat den Krieg überdauert, im sozialistischen Frieden verfiel es. Die zu spät begonnene Restaurierung endete mit der Wiedervereinigung: seit dem fehlen Geld und Interesse. Moorbad (im einstigen Kavaliershaus) und Kindersanatorium haben den Sprung in die Marktwirtschaft geschafft. Die Fabriken im Ort nicht. Das „Neue Schloss“, in dem Pückler geboren wurde, brannte kurz nach Kriegsende aus und steht als Skelett. Die von Pückler angelegte Herrmanns-Neiße, fließt unverdrossen darum herum und schlängelt sich durch den Park.
Von den Parkplätzen kommen Autos und formieren sich zum Konvoi – sie haben Kennzeichen von Berlin, Stuttgart, München, Dresden, Bremen und aus der Umgebung von Bad Muskau.
Berlin, Mai 1994
Für: DIE WELT, Berlin, Juli 1994